Einsatzbereiche und Kontexte

Letzte Änderung: 10/2023

Viele Organisationen sehen sich deutlicher als zuvor an die Verpflichtung zur Barrierefreiheit erinnert und werden deshalb aktiv. Öffentliche Stellen des Bundes, die schon seit 2003 der BITV 2.0 (Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung) unterliegen, haben das Thema mangels Sanktionen lange vernachlässigt. Mit der Verpflichtung der EU-Webseitenrichtlinie, dass alle öffentlichen Stellen eine Erklärung zur Barrierefreiheit mit Feedback-Mechanismus zu veröffentlichen haben, begleitet von der einsetzenden stichprobenartigen Überwachung von Websites und Apps durch die Überwachungsstellen des Bundes und der Länder, ist der Druck deutlich gestiegen.

Für den privaten Sektor, der dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) unterliegt, stellt sich die Frage, wie die Anforderung nach barrierefreien Dienstleistungen und Produkten nachhaltig umgesetzt werden kann. Ein erster Schritt ist häufig das Hinzuziehen externer Expertise, z. B. die Durchführung eines BITV-Tests oder WCAG Audits bestehender Angebote, um Mängel zu identifizieren und zu beheben. Das Problem: Gewonnenes Wissen ist entweder nicht in der Organisation (externer Dienstleister) und / oder verdünnt sich wieder durch die oft hohe Fluktuationsrate qualifizierter Mitarbeiter (Web-Entwickler, Designer).

Menschen mit Behinderungen in Tests der Barrierefreiheit einbeziehen

Getreu dem Motto "Nichts für uns ohne uns" sollen Menschen mit Behinderungen an der Prüfung der Barrierefreiheit und Usability von Webangeboten und Apps beteiligt sein. Sie selbst sind ja unmittelbar betroffen, deshalb sind ihre Ergebnisse potenziell immer relevant. Sie kennen aus eigener Erfahrung die zahlreichen Probleme, die sich in der Nutzung mit ihrer Einschränkung ergeben – Probleme, die auch andere Expertentester immer wieder bei Prüfungen vorfinden. Es ist aber auch klar, dass sich Menschen mit Behinderungen in ihrer Nutzungsweise und ihrer Kenntnis der Hilfsmittel extrem unterscheiden.

Es ist auch klar, dass für Prüfende je nach Behinderung nicht immer die ganze Bandbreite der Anforderungen selbstständig prüfbar ist – und hier kommt die Assistenz und der Teamgedanke ins Spiel.

Strategie für den Aufbau interner Kompetenz

In einer Situation von sich rasch ändernden Technologien ist es strategisch sinnvoll, Kompetenz längerfristig in der Organisation zu verankern. Ein wichtiger Teil eines internen Teams ist die Hilfsmittel-Kompetenz von Mitarbeitenden mit Behinderung. Diese Kompetenz wird in der Regel wenn dann nur passiv genutzt.

Internes Kompetenzteam Inklusion

Wenn man auf den beruflichen Einsatz blickt, zeigt sich, dass der Praxis-Test ein wichtiges Instrument im Rahmen eines "Internen Kompetenzteams Inklusion" sein kann. Wie genau so ein Team heißt, wie es aufgebaut ist und wie es vorgeht, wird von Fall zu Fall unterschiedlich sein.

Das Prüfen im Praxisteam ist in dieser Perspektive nur eine, wenn auch wichtige Aufgabe, die an verschiedenen Stellen zum Tragen kommen kann. Beispiele sind die Prüfung von zu beschaffenden Webanwendungen oder die Qualitätssicherung der eigenen Webangebote und Apps. Welche Aufgaben sich für ein Internes Kompetenzteam Inklusion vorrangig anbieten, wird von Fall zu Fall unterschiedlich sein. Dies ist lediglich ein Einstieg in mögliche Arbeitsbereiche:

Strategische Planung

Nachhaltige Inklusion braucht Planung und Begleitung während der schrittweisen Umsetzung. Dafür existieren Empfehlungen, zum Beispiel DIN EN 17161 oder ISO 30071-1. Nur wenn sie vom höheren Management unterstützt wird, lässt sich Inklusion in Organisationen nachhaltig umsetzen.

Die Rolle von Menschen mit Behinderungen als "Experten in eigener Sache" ist dabei wichtig. Sie wissen oft durch ihren eigenen Arbeitskontext und den anderer, aber ggf. auch über Aufgaben in der Schwerbehindertenvertretung, wo in den täglichen Arbeitsabläufen "der Schuh drückt". Sie können bei der strategischen Planung einer Organisation die Bedarfsseite einbringen. Andere Teilnehmende einer strategischen Planungsgruppe werden andere strategische, marktbezogene, rechtliche oder betriebswirtschaftliche Aspekte beisteuern. An welchen Stellen sind Änderungen am dringendsten geboten, wo sind sie am effektivsten? Wie lassen sich Anforderungen der Barrierefreiheit mit anderen Anforderungen des Workflows oder mit anderen Aspekten wie IT-Sicherheit oder Datenschutz vereinbaren?

Das Ziel kann eine Inklusionsvereinbarung für Organisationen sein, in welcher Schritte verbindlich und überprüfbar festgelegt werden. Damit ergeben sich auch Aufgaben der periodischen Überprüfung der Umsetzung, bei denen Praxis-Tests zum Einsatz kommen können.

Statusanalyse Inklusion

Menschen mit Behinderungen können als Ausgangspunkt für eine Inklusionsstrategie eine Statusanalyse für die Organisation durchführen oder an ihr teilnehmen.

  • Physische / räumliche Barrieren (Durchgänge, Türen, Treppen, Toiletten usw.)
  • Arbeitsabläufe und deren Schnittstellen / Medienbrüche
  • Meetings vor Ort und virtuell: technische Umgebungen, Akustik, Untertitelung usw.
  • Physische Interfaces (Barrierefreiheit von Arbeitsplätzen, Beleuchtung, Geräten wie Telefone und Kopierer usw.)
  • Intern genutzte Anwendungssoftware und deren Schnittstellen (Buchhaltung, Rechnungswesen, ERP, CRM Systeme usw.)
  • Nach außen gerichtete Webangebote und -Anwendungen

Begleitung interner Entwicklung

Bei Organisationen, die intern Apps oder Webanwendungen entwickeln, kann ein Internes Kompetenzteam Inklusion alle Phasen der Entwicklung von der Konzeption bis zur Abnahme begleiten, Hilfsmitteltests und standardbasierte Tests durchführen, Entwickler beraten, und so für gute Zugänglichkeit sorgen.

Beschaffungswesen

Menschen mit Behinderungen können ihre Organisationen bei der Beschaffung barrierefreier Lösungen unterstützen. Dazu kann gehören:

  • Sicherstellen, dass in Ausschreibungen und Anfragen die Barrierefreiheit der zu beschaffenden Produkte und Dienstleistungen gefordert wird, etwa durch Bezug auf Standards wie die Europäische Norm (EN) 301 549. Für Ausschreibungen gibt es Mustervorlagen.
  • Off-The-Shelf-Produkte von Herstellern, die für die Beschaffung erwogen werden, im Praxis-Test auf Barrierefreiheit überprüfen.
  • Bei der Sichtung eingereichter Angebote unterstützen, um Vorhanden-Sein und Plausibilität von Zusicherungen und ggf. Referenzen zu überprüfen.
  • Bei Pitches (Produkt oder Angebotspräsentationen) von Anbietern anwesend sein und gezielt Fragen stellen.
  • Begleitend bei der Entwicklung von IT-Lösungen oder vor Abnahme der Produkte die Barrierefreiheit mittels Praxis-Tests überprüfen.

Interne Anlaufstelle für Barrieren

Praxis-Tester können eine wichtige Rolle bei der Überprüfung interner Fragen oder Beschwerden spielen. Wenn andere Menschen mit Behinderungen in der Organisation auf Barrieren stoßen, hilft oft die Klärung durch Experten bei der Feststellung der Ursache. Liegt es am Hilfsmittel, am Betriebssystem, am Browser oder anderen Aspekten der Installation? Haben sich durch Updates Änderungen ergeben, die Schulungsbedarf oder technische Korrekturen nach sich ziehen sollten? Sind Anwender mit den Hilfsmitteln genügend vertraut? Von solchen Klärungen hängen häufig sinnvolle nächste Schritte ab – etwa die Einbeziehung der internen oder externen IT-Dienstleister, von Integrationsdiensten oder Hilfsmittelfirmen, die spezielle technische Anpassungen vornehmen.

Prüfstelle für Test-Dienstleistungen

Eine andere Möglichkeit für den Einsatz des Praxis-Tests ist die Verwendung als ein Baustein von Organisationen, die Dienstleistungen im Bereich Barrierefreiheit anbieten, zum Beispiel als BIK-Prüfstelle. Die Dias GmbH hat parallel zur Entwicklung der Methodik und der Definition eines Prüfverfahrens von Apps selbst Praxis-Tests durchgeführt. Die Analyse der Abläufe ist in die hier vorgestellte Methodik eingeflossen.

In solchen Organisationen können Menschen mit Behinderungen eine Reihe von Aufgaben übernehmen, etwa

  • Praxis-Tests als Konformitätstests (BIK BITV Web- und App-Tests) und Kurztests
  • Aufgabenbasierte Hilfsmitteltests umgesetzter Angebote zur Optimierung der Nutzung, "Acceptance-Test"
  • Kundenberatung zur Verbesserung der Umsetzung im Anschluss an Tests
  • Workshops und Vorträge zur Sensibilisierung: Aufklärung über die Nutzungsweisen und Bedarfe von Menschen mit Behinderung mit Live-Präsentation der Hilfsmittel-Nutzung

Natürlich stellt sich die Frage ob ein Praxis-Test, der in der Regel zeitaufwändiger ist als ein Test mit nur einem Prüfenden, überhaupt konkurrenzfähig ist. Es ist deshalb wichtig, die Pluspunkte des Praxis-Tests gegenüber dem Standard-Expertentest herauszustellen.

Den Kunden gegenüber ist ein "Selling Point" des Praxis-Tests also, dass tatsächlich Menschen mit Behinderungen das Angebot testen und so eine praxisnahe Aussage zum Grad der Nutzbarkeit treffen können, die über die rein technische Barrierefreiheit hinausgeht.

Was die Personalkosten für Assistierende im Praxis-Test angeht, ist zu berücksichtigen, dass Integrationsämter in der Regel Assistenzleistungen je nach Bedarf vergüten, auch wenn die Stundensätze deutlich unter den errechneten internen Stundensätzen für professionelle Tätigkeiten bleiben. Der zeitliche Mehraufwand kann so also nur zu einem gewissen Teil kompensiert werden.

Dass es funktionieren kann, zeigt die neue BIK Prüfstelle "Barrierefreiheit umsetzen", in der ein blinder und ein sehender Prüfer zusammen Praxis-Tests durchführen.