Der Untis-App-Test

Letzte Änderung 07/2023

Im Juni und Juli 2023 ist Natan, 14 Jahre, für 3 Wochen als Praktikant bei uns. Natan ist blind und besucht die 8. Klasse einer Hamburger Gesamtschule. Er ist als „digital native“ sicher im Umgang mit Smartphone (iPhone) und Desktop-Rechner (Mac). Beides nutzt er täglich, das Smartphone ständig, z.B. auch als Uhr. Als assistive Technologie ist bei ihm der integrierte Screenreader VoiceOver im Einsatz.

Als Projekt für sein Betriebspraktikum nehmen wir uns unter anderem einen App-Test auf Barrierefreiheit vor: Mit Natan besprechen wir, welche App wir untersuchen wollen, und entscheiden uns für die Untis Mobile App. Über diese App informieren Schulen, auch Natans Schule, ihre Schüler*innen über den aktuellen Stundenplan und weitere wichtige Informationen wie Vertretungen, Stunden-Ausfälle oder Raumänderungen. Der Hersteller wirbt auf seiner Internetseite: „Weltweit arbeiten bereits über 26.000 Bildungseinrichtungen – von der kleinen Grundschule bis zur komplexen Universität – mit unseren Produkten.“

Untis wird von vielen Schulen für die Planung des Schulalltags eingesetzt. Über die App sollen wichtige Informationen bei den Schüler*innen ankommen – wie vom Hersteller versprochen „immer und überall zugänglich“. Schulen verlassen sich darauf. Doch wie steht es um die Zugänglichkeit für Schüler*innen mit Behinderungen?

Wie barrierefrei ist die Untis-App?

Wie alle Schüler*innen möchte sich auch Natan über die Untis-App über seinen Stundenplan, Unterrichts-Ausfall oder Raumänderungen informieren. Doch er berichtet, dass er dafür in Teilen sehende Hilfe in Anspruch nehmen muss.

Junge mit kurzem, braunem Haar am Schreibtisch, in der Hand ein Smartphone

Wir nehmen die Untis-App also mit einem Barrierefreiheits-Kurztest im Team unter die Lupe: Natans Screenreader-Tests ergänzen sehende Kolleg*innen mit einzelnen weiteren Barrierefreiheits-Checks, die Natan behinderungsbedingt nicht durchführen kann. Dieser Barrierefreiheits-Kurztest hat nicht den Anspruch, alle Barrierefreiheitsanforderungen des – übrigens auch für öffentliche Stellen wie Schulen verpflichtenden Standards – EN 301 549 abzubilden. Er kann aber Barrieren und damit erste Ansätze für Optimierungen, aufzeigen.

Die Checks wurden vom 19.06. bis 04.07.2023 durchgeführt.

Checks unter mobilen Screenreadern

Auf mobilen Endgeräten kommen die integrierten Screenreader (Bildschirmleseprogramme) VoiceOver (iOS) und TalkBack (Android) zum Einsatz. Screenreader vermitteln alle Inhalte, die auf dem Smartphone zur Verfügung gestellt werden, über eine Sprachausgabe. Es gibt bei aktiviertem Screenreader zwei verschiedene Modi, um mit Inhalten zu interagieren: Mittels Wischgesten oder über die Berührungserkundung (explore by touch). Im Touch-Modus erkundet man seinen Bildschirm, indem man einen Finger langsam auf ihm bewegt. Berührt man dabei interaktive Elemente sollten Beschriftungen und möglicherweise Aktionen ausgegeben werden. Im Touch-Modus kann man eine App-Ansicht sehr schnell erkunden, sie eignet sich v.a. für Apps, deren Aufbau man schon kennt. Beim Wischgesten-Modus erkundet man die App durch Wischgesten, etwa Wischen nach rechts oder links, um ein Element nach dem anderen zu fokussieren. Auch hier sollte die Sprachausgabe für jedes interaktive Element eine Beschriftung und mögliche Aktionen ausgeben.

In den Screenreader-Tests prüft Natan beide Modi in den beiden Betriebssystemen Android und iOS. Untersucht wird von ihm nur die für ihn wichtige Stundenplan-Ansicht. Hier werden visuell in einer Art Tabelle die Fächer (Zellen im Inhalt) und das Datum (Zeilenüberschrift) sowie die Zeiteinheiten (Spaltenüberschrift) angezeigt. Entfällt Unterricht, wird das visuell vermittelt, indem die Fächer-Kästchen durchgestrichen sind (in roter oder schwarzer Farbe).

Wichtige Checks waren:

  • Sind alle Elemente, v.a. Bedienelemente per Touch- und Wischgesten-Steuerung erreich- und ggf. bedienbar?
  • Haben Bedienelemente eine aussagekräftige Beschriftung?
  • Stellen alle visuell verfügbaren Elemente semantische Informationen wie Name (z.B. Alternativtext), Rolle (z.B. Schaltfläche), Wert (für Schulstunden z.B. "entfällt") für Screenreader zur Verfügung?

Android: Stundenplan Tab

  • Screenreader: TalkBack
  • Testgerät: Pixel 4
Screenshot der Untis-App, geöffnet ist der Stundenplan-Tab

Unter Android sind mit dem Screenreader TalkBack die Schaltflächen (z.B. Schalter für die Auswahl von Wochen- oder Tagesansicht, Kalender) bzw. Elemente (z.B. Datum, Uhrzeit) im Header- und Footerbereich per Touch- und per Wischgesten-Steuerung erreich- und bedienbar.

Die einzelnen Fächer (Zellen) sind jedoch in beiden Modi weder erreich- noch bedienbar. Es wird für den gesamten Inhaltsblock der Tabelle (alle Zellen im Gesamten) von TalkBack nur der Hinweis „mit 3 Fingern tippen“ ausgegeben, der nicht funktioniert.

Der Schalter für die Auswahl von Wochen- oder Tagesansicht wird als „activity time table action mode, Schaltfläche“, das Kalender-Icon als „activity time table action calender, Schaltfläche“ ausgegeben. Beide Beschriftungen sind englischsprachig und nicht gut verständlich.

Das Datum (Zeilenüberschrift) wird zwar sowohl unter Touch- als auch unter Wischgesten-Steuerung vorgelesen, allerdings falsch: So wird aus dem 3. Juli 2023 (einem Montag) ein „Seite 3, Mo“. Dies passiert sowohl bei der Wochen- als auch bei der Tagesansicht. Auch das ist nicht verständlich.

Die Uhrzeiten (Spaltenüberschrift) werden weder unter Touch- noch unter Gesten-Steuerung ausgegeben.

Stundenplanänderungen, etwa dass Unterricht ausfällt (also ein Fach durchgestrichen ist), vermittelt sich über TalkBack überhaupt nicht.

iOS: Stundenplan-Tab

  • Screenreader: VoiceOver
  • Testgerät: iPhone 13

Unter iOS mit dem Screenreader VoiceOver sind alle Elemente per Touch- und per Wischgesten-Steuerung erreich- und bedienbar.

Der Schalter für die Auswahl von Wochen- oder Tagesansicht wird jedoch als „quickselect day“ ausgegeben. Auch diese englischsprachige Beschriftung ist nicht gut verständlich.

Das wichtige Datum (Zeilenüberschrift) wird unter Berührungserkundung in der Wochen- und Tagesansicht nur als „Taste“ ausgegeben. Hier fehlt die aussagekräftige Beschriftung völlig.

Videobeschreibung "Schalter ohne zugänglichen Namen"

Screen-Video eines Tests unter VoiceOver. Natan bewegt sich im "Explore by Touch"-Modus durch die Stundenplanansicht. Interaktive Elemente, die er mit dem Finger berührt, erhalten eine weiße Umrandung. Er bewegt er sich mit dem Finger über verschiedene Varianten der Datumsfelder. Dort stehen eigentlich bei jedem Datumsfeld der Monat (z.B. Juni), der Tag (z.B. 27) und der Wochentag (z.B. Di für Dienstag). Ihm wird bei Fokussierung der Datumsfelder immer nur "Taste" ausgegeben.

Wenn eine Unterrichts-Stunde ausfällt, wird das nur visuell durch eine Durchstreichung in roter Farbe dargestellt. VoiceOver sagt bei Fokussierung des einzelnen Fachs nicht an, ob die Stunde entfällt. Man muss das einzelne Fach per Doppelklick „öffnen“, um dies herauszufinden. Da die Fächer von VoiceOver nicht als Schalter angesagt werden, kommt man nur aus Zufall darauf, dass man Doppeltippen kann, um mehr Informationen über das Fach anzuzeigen. Und auch das ist nicht abschließend hilfreich, weil in der geöffneten Ansicht der Tag, zu dem die Stunde gehört, nicht ausgegeben wird, man also aufs Raten angewiesen ist.

Videobeschreibung "Entfällt Unterricht?"

Screen-Video eines Tests unter VoiceOver. Natan bewegt sich im "Explore by Touch"-Modus durch die Stundenplanansicht. Interaktive Elemente, die er mit dem Finger berührt, erhalten eine weiße Umrandung. Er bewegt sich mit dem Finger über die Fächer. Es handelt sich um graue Felder in einer tabellarischen Ansicht. Mehrere Fächer sind untereinander aufgereiht. In ihnen stehen Abkürzungen für das Fach (z.B. Religion), den Raum (z.B. 10AV) und die Klassen, die diesen Unterricht haben (z.B. 8e). Da an dem Tag alle Unterrichtsstunden ausfallen sind alle grauen Felder quer durchgestrichen. Visuell vermittelt das, Unterricht entfällt. Natan fokussiert ein Fach, ihm wird nicht vermittelt, dass Unterricht entfällt. Erst durch Doppeltippen öffnen sich weitere Informationen zum einzelnen Fach. In dieser Ansicht wird visuell das Datum, das Zeitfenster des Unterrichts, das Fach, die eingebundenen Klassen, der Raum, ein rot unterlegtes Rechteck mit "Entfällt" und Hausaufgaben mit einer Null vermittelt.

Check der Tastaturnavigation

Jedes Element der Stundenplan-Ansicht, das per Touch bedienbar ist, muss auch mit Tastatur bedienbar sein – denn Apps sollen nicht nur auf Smartphones, sondern auch auf Tablets mit integrierter oder gekoppelter Tastatur genutzt werden können. Die Tastaturnavigation untersucht unser sehender Teamkollege Volker.

Android: Stundenplan Tab

  • Externe Tastatur: Dell
  • Testgerät: Pixel 4

Ähnlich wie bei der Screenreader-Nutzung zeigte sich, dass die Elemente im Header- und Footerbereich per externer Tastatur erreich- und bedienbar sind, nicht jedoch die interaktiven Elemente im Inhaltsbereich mit den einzelnen Fächern (Zellen nicht erreich- und bedienbar).

iOS: Stundenplan Tab

  • Testgerät: iPad Pro (3. Generation) mit externer Tastatur Smart Keyboard

Alle Elemente sind auch per Tastatur erreich- und bedienbar.

Smartphone in der Hand des Testers, über Adapter ist eine externe Tastatur angeschlossen.

Sichtprüfung

Die Sichtprüfung beinhaltet v.a. visuelle Aspekte, etwa

  • Sind Kontraste von Bedienelementen oder Text ausreichend?
  • Lassen sich App-Inhalte sowohl im Hoch- als auch im Querformat darstellen?
  • Werden Informationen ausschließlich über Farbe vermittelt?

Wir dokumentieren hier nur stichprobenartig einzelne Checks, die Simone als sehendes Teammitglied durchgeführt hat. Sie nutzt für die Tests unter anderem das automatische Werkzeug Accessibility Scanner App von Google.

Einige Textkontraste sind nicht ausreichend. Die grauen Texte beispielsweise haben ein Kontrastverhältnis 2,77:1 (soll wäre 4,5:1). Sehbehinderte Nutzende können solch kontrastarmen Text nicht ausreichend wahrnehmen.

Screenshot mit grauem Text auf weißem Hintergrund, darunter ein eingeblendeter Hinweis: Farben bearbeiten, Kontrastverhältnis derzeit 2,77:1 Vorschlag wäre 4,50:1.

Auch Bedienelemente benötigen guten Kontrast von mindestens 3:1. Auch hier fallen einige durch, etwa das Icon für die Auswahl von Tages- oder Wochenansicht. Es hat derzeit ein Kontrastverhältnis von nur 1,7:1.

Screenshot einer App-Ansicht mit hellgrauem Icon (stilisierte Tabelle) auf weißem Hintergrund. Darunter steht ein Hinweis: Farbe bearbeiten. Kontrastverhältnis derzeit 1,70:1. Vorschlag 3,00:1.

Die App wird auf dem Android-Testgerät (Pixel 4) nur im Hochformat angezeigt. Eine Barriere, da manche Menschen mit Behinderungen fest montierte Endgeräte haben, z.B. an einem Rollstuhl.

Für farbfehlsichtige Menschen sollten wichtige Informationen nicht ausschließlich über Farbe vermittelt werden. Was die Untis-App über ihre Farbgebung vermittelt ist jedoch unklar. Außerdem sehen die Stundenplan-Ansichten von verschiedenen Schulen unterschiedlich aus. Ich habe einen sehenden Bekannten, der auch Untis nutzt, gefragt, was denn die Farben vermitteln. Er konnte es nicht klar beantworten. Wahrscheinlich ist die Farbgebung für Schüler*innen mit und ohne Behinderungen gleichermaßen „schwer zugänglich“.

Zwei Screenshots der Untis-Stundenplanansicht im Vergleich: eine Variante zeigt Kästchen in grün, hellblau, orange, rosa auf schwarzem Hintergrund (Dark Mode), die andere zeigt nur graue Kästchen.

Fazit – Untis-App hat Barrieren

Die Untis-App zeigt in einzelnen Checks gravierende Barrieren. Dadurch ist die gleichberechtigte Teilhabe von Schüler*innen mit Behinderungen eingeschränkt.

Unser Ziel ist es, diese Erkenntnisse an die Österreichische Firma Untis weiterzugeben, um Optimierungen anzuregen. Dies werden wir über die Feedback-Möglichkeit machen, die in der Barrierefreiheits-Erklärung der Untis-Website für Barrierefreiheits-Issues angegeben ist.

Zum anderen werden wir die Hamburger Schulbehörde informieren, die als öffentliche Stelle gemäß Hamburgischem Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen (§ 11 Barrierefreie Informationstechnik, Absatz 1) dazu verpflichtet ist, mobile Anwendungen barrierefrei gemäß anzuwendendem Standard EN 301 549 zu gestalten. Dies gilt auch für mobile Anwendungen, die durch Dritte gestaltet und von der öffentlichen Stelle finanziert werden. Erhält man zeitnah keine Rückmeldung einer öffentlichen Stelle, kann eine Schlichtungsstelle, in Hamburg die Schlichtungsstelle nach dem Hamburgischen Behindertengleichstellungsgesetz, eingebunden werden.