Überblick über den Praxis-Test

Letzte Änderung: 10/2023

Einen Praxis-Test nennen wir den Test von Webangeboten oder Apps durch Menschen mit Behinderungen, die durch ihre praktische Nutzung (oft mit ihrem vertrauten Hilfsmittel) und ihre Expertise bestehende Barrieren erkennen und beschreiben können. Die beschriebenen Mängel helfen Entwicklern oder anderen Verantwortlichen, Verbesserungen vorzunehmen.

Wenn der Praxis-Test für einen vollen Konformitätstest genutzt wird, sind viele der Voraussetzungen und Abläufe ähnlich wie etwa beim BIK BITV Expertentest. Ist das Angebot prüfbar? Lässt sich der Prüfgegenstand klar abgrenzen? Ist die Seiten- oder Ansichten-Auswahl repräsentativ und kann damit veröffentlicht werden, oder ist sie beschränkt und nur für die interne Nutzung? Das Ergebnis eines Tests ist wie beim Expertentest ein Bericht, der ein Konformitätsergebnis für jede Seite und jeden Prüfschritt enthält und Mängel identifiziert, beschreibt und wo möglich Hinweise für die Korrektur bzw. Fehlerbehebung gibt.

Dennoch gibt es einige wichtige Unterschiede zwischen dem Test durch einen Expertentest und einem Praxis-Test.

Was der Praxis-Test ans Licht bringen kann

Im Praxis-Test werden oft Aspekte besser erfasst, die sich in der Nutzung der Hilfsmittel ergeben. So wird die Effizienz der Navigation für Screenreader-Nutzende im Konformitätstest nicht bewertet.

Hier einige Beispiele für gravierende Mängel, die ggf. erst in einem Praxis-Test auffallen und keine Konformitätsverstöße darstellen:

  1. Ein tief gestaffeltes Navigationsmenü führt den Tabfokus durch alle Unterebenen, ein schnelles Durchlaufen der Hauptmenü-Ebene ist nicht möglich (siehe Video eines Beispiels tief verschachtelter Navigation). Die Praxis-Testerin empfiehlt, die Tab-Reihenfolge so zu ändern, dass sie die Hauptmenüpunkte durchläuft und die Untermenüs erst bei Aktivierung geöffnet werden.
  2. Auf einer Seite mit langen Textpassagen fehlen Zwischenüberschriften. Ein Screenreader-nutzender Praxis-Tester weist darauf hin, dass diese die Informationen besser navigierbar und damit deutlich nutzbarer machen wird.
  3. In der responsiven Navigation eines Webangebots finden sich im Navigationsmenü die Menüeinträge ganz links, und Pfeil-Ausklappelemente für Untermenüs ganz rechts. Für Nutzer starker Vergrößerung ist es sehr schwer, beide einander zuzuordnen und das richtige Untermenü auszuklappen (siehe Video der Nutzung eines solchen Menüs durch eine sehbehinderte Testerin). Die Praxis-Testerin empfiehlt Beschriftung und Ausklappelement nahe beieinander zu halten oder zumindest Führungslinien in das Menü einzubauen, um die Zuordnung zu erleichtern.

Oft ergeben sich aus der Praxis-Test-Prüfpraxis an vielen Stellen wertvolle Usability-Hinweise selbst bei Angeboten, die formal die Barrierefreiheits-Anforderungen erfüllen, deren Nutzbarkeit aber deutlich verbessert werden kann.

Praxis-Test allein oder im Team

Während manche Prüfende mit Behinderungen gut allein zurechtkommen, brauchen andere eine Assistenz, arbeiten also im Team. Auch eine nachgeordnete Qualitätssicherung gehört oft zum Team.

Die Assistenz kann funktionale Einschränkungen des Prüfenden ausgleichen. So kann eine sehende Assistenz jene Anforderungen prüfen, die z.B. für blinde Prüfende nicht erkennbar sind, und bei anderen Anforderungen Hilfestellung leisten.

Praxis-Tester*innen sind, wenn sie Hilfsmittel nutzen, mit diesen möglichst gut vertraut und kennen (oder erlernen) die Anforderungen der Barrierefreiheit, wie sie zum Beispiel in den Standards WCAG (Web Content Accessibility Guidelines) bzw. EN 301 549 beschrieben sind. Praxis-Tester*innen sollten außerdem technische Grundlagen der Umsetzung barrierefreier Angebote kennen oder erlernen.

Die Prüfung von Web-Inhalten und nativen Apps

Praxis-Tests können sowohl Web-Angebote als auch native Apps untersuchen. Im internen Team des Projekts stand der App-Test im Vordergrund.

Während viele der Anforderungen an Web-Inhalte und Apps inhaltlich gleich sind, gibt es bei den eigentlichen Prüf-Abläufen deutliche Unterschiede. Native Apps sind nicht quell-offen, das heißt, die Prüfung kann nicht "hinter die Kulissen" schauen. Die Nutzung des Screenreaders zur Überprüfung der Erreichbarkeit, Bedienbarkeit und semantischen Auszeichnung von Elementen bei nativen Apps wird deshalb unerlässlich.

Die Prüfung von Apps ist deshalb ein Bereich, der sich besonders für die Teamprüfung in der Konstellation "Screenreader-nutzende Prüfende mit sehender Assistenz" anbietet.

Varianten des Praxis-Tests

Oft ist der Praxis-Test ein Konformitätstest, der für einen definierten Prüfgegenstand, etwa eine mobile App oder ein webbasiertes Angebot, alle Anforderungen einer Richtlinie oder Norm vollständig abarbeitet. So gibt es beispielsweise den BIK BITV-Test, der alle Anforderungen der BITV 2.0 an Webangebote oder native Apps erfasst.

Wenn der Praxis-Test als Konformitätstest durchgeführt wird, folgt er zum Beispiel den auf https://ergebnis.bitvtest.de dokumentierten Prüfschritten:

Grundsätzlich sind die hier beschriebenen Abläufe natürlich auch in anderen Prüfumgebungen als dem BIK Prüfverfahren und BIK Prüfwerkzeug umsetzbar.

Eine Variante des Praxis-Tests kann aber auch für vom Aufwand her begrenzte Tests eingesetzt werden, zum Beispiel, um in einem gesetzten Zeitrahmen wesentliche Mängel eines Angebots ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erfassen. Hier werden nicht alle Anforderungen systematisch geprüft, sondern nur die im gesetzten Zeitrahmen auffallenden Mängel erfasst.

Ein anderer Ansatz ist es, nur eine definierte Teilmenge der Anforderungen zu prüfen, wie dies zum Beispiel bei der vereinfachten Überwachung der Barrierefreiheit von Webangeboten öffentlicher Stellen durch die Überwachungsstellen des Bundes und der Länder geschieht. Eine Teilmenge könnte ein besonderer Use-Case wie z. B. der Bestellprozess in einem Online-Shop sein.

Der Unterschied zum Usability-Test

Auch im Usability-Test geht es um die praktische Nutzung, aber es gibt einige Unterschiede:

  • Die Probanden mit Behinderung im Usability-Test brauchen kein Verständnis der Anforderungen der Barrierefreiheits-Standards. Sie sind im besten Fall "normale" Nutzende, die eben ggf. Hilfsmittel wie Vergrößerungsfunktionen oder Screenreader einsetzen, oft ohne diese besonders gut zu kennen.
  • Der Usability-Test fokussiert auf ganz bestimmte Aufgaben und hält dann fest, ob (oder bis zu welchem Punkt) diese durchgeführt werden können und welche Schwierigkeiten dabei auftauchen.
  • Der Usability-Test wird meist von einer Testleiterung moderiert, die die Testperson in den Test einführt, die Ergebnisse festhält und oft hinterher um zusätzliche Einschätzungen bittet.
  • Weiterführende Informationen zum Usability-Test.

Im Unterschied zu den Probandinnen und Probanden in einem Usability-Test ist es für Praxis-Testende wesentlich, sich zunehmend in die Barrierefreiheits-Anforderungen und die technischen Umsetzungen einzuarbeiten. Das Ziel ist, die eigene Expertise in Sachen Barrierefreiheit zu entwickeln, um Mängel zu erfassen und auf hilfreiche Weise zu beschreiben.